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Vermenschlichtes Kalkül

Ludwig Seyfarth, freier Autor und Kurator, September 2017

Wir sehen mit Blei- und Buntstift gezogene feine Linien, die ein Raster oder Gitter ergeben, aber nie in einer mathematisch-konstruktiven Selbstbezüglichkeit verbleiben. Durch in verschiedenen Richtungen gesetzte Strichlagen entstehen fächerartige Gebilde oder fast architektonisch wirkende Gesamtformen, die etwa an ein Zelt erinnern können. Flecken oder Punkte oder schwebende fischartige Formen verteilen sich auf dem Bild oder ein großer weißer, an einen Vollmond erinnernder Kreis ist von senkrechten Linien überzogen. Oder ein Alphabet verschiedener Grundformen wird gleichsam durchdekliniert. Diese Formbuchstaben wurden 

mit Bleistift auf weißes Papier gesetzt, so dass die Figuren auf einem neutralen 

Grund stehen, der selbst keinen Eigenwert hat. Das ist bei Lena Ditlmann jedoch eher eine Ausnahme.

Die meisten Blätter sind mit farbiger Tusche grundiert, und das heiß gepresste Baumwollpapier hat eine spürbare und suggestiv den Tastsinn ansprechende körperliche Qualität. Der Bildgrund wird als Träger der Zeichnung fast zu einer Haut. Wenn das Taktile – man könnte nahezu sagen, der Objektcharakter – derart betont wird, gerät Zeichnung auch tendenziell zu einem Gemälde oder vielmehr zu etwas, das zwischen den traditionellen Grenzen der Bildmedien steht. 

In seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung FAVORITES III. Zeichnung & Gestaltung in der Galerie Anita Beckers wies Prof. Dr. Christian Janecke darauf hin, dass es zwei verschiedene Traditionen des Geometrisch-Linearen in der modernen Kunst gibt: einmal die konstruktivistisch strenge, die sich in die konkrete Kunst weiterentwickelt hat, anderseits eine eher poetische und an Naturformen orientierte, wobei er Lena Ditlmann dieser Linie zuordnet. 

Hier kommt auch fast unwillkürlich Paul Klee in den Sinn, der mit seiner Aussage „Kunst verhält sich zur Schöpfung gleichnisartig“ gleichsam Paul Cézanne paraphrasiert hat, der die Kunst als eine „Harmonie parallel zur Natur“ bezeichnete. Damit wird die Kunst nicht (mehr) als Abbildung der äußeren Erscheinungen der Natur verstanden, sondern die Beziehung zur Natur wird als strukturelle gesehen, das künstlerische Vorgehen mit natürlichen Wachstumsprozessen in Analogie gesetzt. 

Das mathematisch-Konstruktive ist bei Lena Ditlmann demnach nur ein Ausgangspunkt, das den Bedingungen der Materialien und ihrer organischen Qualitäten unterworfen wird. Dies erinnert an das Vorgehen Paul Klees, von dem Lena Ditlmann nicht nur einige Jahrzehnte trennen, sondern auch die zwischenzeitliche Entwicklung der Conceptual Art und der Möglichkeiten digitaler Simulation. Lena Ditlmann entwickelt Ideen, Konzepte, Programme, die sie dann gleichsam in der Ausführung testet. Die Titel der Bilder sind abstrakte Zahlen, die an Seriennummern oder eine IP-Adresse erinnern. Paul Klee, damit noch in der Tradition der Romantik stehend, sah sich als eine Art Medium, das Ideen der Natur ausführte. Auch Lena Ditlmann sieht sich letztlich als Ausführende von Vorgaben. Sie versetzt sich in einen Zustand, in dem sie sich von den abstrakten konzeptuellen Setzungen gleichsam treiben lässt, diese dabei aber aus der Sphäre nackten Kalküls herausholt und gleichsam vermenschlicht

Humanized Calculation    

We see fine lines drawn with graphite and colored pencil that build a screen or grid but do not continue to a mathematically constructed self-reference. The lines, set in different directions, create partitioned structures or seemingly architectural shapes that can be reminiscent of a tent. Flecks or spots or hovering fish-like forms are spread across the image or a large, white circle similar to a full moon overlaid with vertical lines. Or an alphabet of diverse base forms that, as it were, run from A to Z. These ‘form letters’ were written with pencil on white paper so that the figures are on a neutral background that does not have any inherent worth. This is for Lena Ditlmann, however, an exception. Most ‘pages’ are primed with colored ink and the hot-pressed cotton paper has a perceptible and suggestively haptical physical quality. The pictorial plane becomes the carrier or the drawing; almost like a skin. When the tactile – one could almost say the object character – is emphasized so, the drawing has a tendency to turn into a painting or, more accurately, something that exists between the borders of the two traditional pictorial medias.

In his opening speech for the exhibition “FAVORITES III. Drawing & Design” at the Galerie Anita Beckers, Christian Janecke pointed out that there are two different traditions in the geometric-linear in modern art: one is the constructivist strain that was developed into concrete art and the other is the more poetic strain that orients itself on natural forms. He subscribes Lena Ditlmann to the latter. 

One inevitably thinks of the Paul Klee quote “art is a parable of creation;” which paraphrases Paul Cézanne who described art as a “harmony parallel to nature.” Therefore, art was not understood (any longer) as a reproduction of the exterior phenomena of nature, but the relationship to nature became viewed as structural and set artistic practice as an analogy to the natural growth process. The mathematical-constructive is for Lena Ditlmann accordingly only a starting point that is subjugated to the requirements of the material and its organic qualities. Again, one is reminded of Paul Klee’s approach from which Lena Ditlmann is distanced by not only a few centuries, but also the developments in Conceptual Art and the ability of digital simulation. Lena Ditlmann develops ideas, concepts, programs that she then ‘tests.’ The title of her works are abstract numbers that remind one of serial numbers or IP-addresses. Paul Klee, rooted in the tradition of romanticism, understood himself as a kind of medium that carried out the ideas of nature. Lena Ditlmann also understands her work as an implementation of parameters. She transfers herself into a state in which she is driven by the abstract, conceptual positioning of elements which are extracted from the sphere of cool calculation but are simultaneously “humanized” through this process.